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Wurzeln

Ein Baum wächst mit Wurzeln und entfaltet sich in Ästen. Der Mensch lebt wie ein Baum und kann Äste in die Erde und Wurzeln in die Luft strecken. So wie unsere Gene eine Werdungsgeschichte weitertragen, so sind es auch unsere Vorfahren und deren Lebensräume und -bedingungen, die einen Kosmos in sich beherbergen. Ohne Wurzeln wächst man nicht. So ist die Sehnsucht des Mystikers auch nichts anderes als das stetige Ab- und Aufsteigen des Geistes in Wurzelspitzen und Endpunkte der Verästelungen. Dort an den Endpunkten löst sich das Selbst im All auf und erfährt sich selbst als Teil des Ganzen. Diese Sehnsucht treibt mich seit ich denken kann. Je mehr ich finde, desto tiefer graben sich meine Wurzlen in den Kosmos. Ich bette mich in den Schoß Gottes und schaue hinaus in die Weiten der Welt. Als Persönlichkeiten und Charaktere tragen wir die genetischen Informationen unserer Vorfahren in uns. Das was meine Vorfahren an Geninformationen geschrieben haben, steckt in meiner DNA. Jeder sollte soweit wie möglich Informationen über die eigenen Vorfahren zusammentragen. Wie, wo und unter welchem Umständen sie gelebt haben. Was für Besonderheiten sie hatten. Meine Reise nach den Vorfahren beginnt im Jahr 1835, wo die ersten systematischen Volkszählungen im osmanischen Reich begannen. In dieser Zeit wurden alle männlichen Personen mit Alter, dem Vatersnamen und kurzer Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes beschrieben. In diesem Ausschnitt aus einer Volkszählung in dem Distrikt Kelkit der Provinz Gümüshane steht folgendes geschrieben:

Orta boylu kara sakallı Mehter Ali oğlu Mehmed. Sin 45

Übersetzt: Mittelgroßer, schwarzbärtiger Mehmed, Sohn des Mehter Ali. Alter 45.

Ausschnitt aus einer Volkszählung aus dem Jahr 1835

Somit habe ich nicht nur das Geburtsdatum meines Urgroßvaters Mehmed (1790) sondern auch den Namen seines Vaters Mehter Ali. Bevor es Nachnamen gab, pflegte man für eine Sippe neben dem Namen des Stammes auch Sippennamen. Wir wurden die „Mögter“ genannt. Mögter war in der regionalen Aussprache Mehter. So konnte ich wenigstens etwas in der Volkszählung entdecken. Idealerweise stehen da noch die Namen der Söhne und deren Alter. Leider ist hier erstmal nichts weiter zu holen. Die Suche geht weiter.

Auf die Frage „woher kommst du eigentlich?“ kann ich erstmal mit Nordhessen antworten. Nach kurzer Verlegenheit meines Gesprächpartners gehts dann weiter. Hier mitten im Nirgendwo, 1100 KM von Istanbul entfernt wurde 1835 mein Urururur-Großvater Mehmed registriert. Das Dorf heisst Günbatur.

Gümüshane Kelkit – Günbatur

Ein Dorf bestehend aus verschiedenen Herkünften. Aleviten, Sunniten, Tscherkessen, Kurden, Turkmenen. Alle Gruppen haben hier friedlich mit- und nebeneinander gelebt, bis sie ab den 50er Jahren scharenweise nach Istanbul und von dort auch Richtung Deutschland als Gastarbeiter ausgewandert sind. Viele Familien aus Günbatur leben in Hessen / Rhein-Main. Familien wie z.B. Odabaş, Can, Ördek, Köse, Mete, Satılmış, Öztürk, Türkel, Sözen, Meral, Kurt, Gül, Fidan, Dursun, Deniz, Demirtaş.

Das Dorf meiner Vorfahren

Der lange Weg nach Nordhessen

Provinz Gümüşhane, Distrikt Kelkit, Dorf Günbatur. Mitten im Nirgendwo

Auf der Suche nach meinen Wurzeln, besuchte ich 2009 das erste Mal das Dorf meiner Vorfahren. Von dort fuhr ich ein paar Kilometer weiter nach Bayburt Demirözü, zum Geburtsort meiner Mutter.

Das Haus meiner Ururgroßeltern

Das Dorf Yukarı Dikmetaş, ehemals Ağgi, gehört zur Provinz Bayburt / Distrikt Demirözü.

Dorf der Mutterseite – Yukarı Dikmetaş (Ağgi)

Meine Oma brachte meine Mutter ganz alleine in der Scheune zur Welt. Es war Besuch gekommen und aus Scham, dass ihre Wehen einsetzten begab sie sich in die Scheune. Nach einer Zeit fragte man sich, wo die Frau des Hauses den geblieben sei. Dann entdeckten sie meine Oma im Heu liegend und meine Mutter auf dem Boden. Vom Geburtshaus meiner Mutter ist leider nichts mehr übrig geblieben.

Geburtsort meiner Mutter

Mein Urgroßvater Ali, der übrigens der Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits ist, verließ schon sehr früh das Dorf in Richtung Istanbul. Hier arbeitete er beim berühmten Spirituosen Hersteller TEKEL. Um Geld zu sparen lief er täglich Kilometerweit zur Arbeit. Dann kaufte er einem armenischen Banker eine riesige Holzvilla (türk. Köşk) ab.

Urgroßvater Ali Mete mit Urgroßmutter Sultan

Dann kamen nach und nach alle anderen nach Istanbul. Er holte auch seine Mutter, meine Urur-Großmutter Kıymet nach Istanbul. Sie kam 1886 auf die Welt und starb Mitte der 70er Jahre. Kurz vor ihrem Tod äußerte sie den Wunsch, in ihr Heimatdorf sterben gehen zu wollen. Zwei Wochen später starb sie. Kurz vor ihrem Tod verlangte sie ein Glas Wasser mit den Worten: „Ich sterbe jetzt, holt mir ein Glas Wasser“. Ihr Ehemann, mein Urur-Großvater Şerif starb bereits im Jahr 1940 aufgrund inneren Verletzungen, die er sich nach einem Kampf mit einem Bären zugezogen haben soll. Der Legende nach war er zu Fuß auf dem Heimweg und begegnete in der Dunkelheit einem Bären, der ihn angriff. Er kämpfte mit dem Bären und konnte sich schliesslich mit einem Ast retten, den er dem Bären ins Maul schob. Zwei Wochen später verstarb er. Oder nur eine Geschichte? Die Wahrheit wird wohl für immer verloren sein.

Kiymet Mete Uroma mütterlicherseits und Ururoma väterlicherseits Hinten im Bild mein Vater

Opa Asker Mete in Nordhessen

Mein Großvater Asker (geb. 1934) hatte eigentlich andere Pläne mit seinem Leben. Er schrieb Gedichte und spielte Saz. Wahrscheinlich war es sein Traum, ein Ozan (Barde) zu werden. Es verschlug ihn allerdings nach Nordhessen, als Arbeiter der Preussen Elektra AG, in den Braunkohlebergbau.

In Istanbul zurück blieben mein Vater, Onkel, Tanten und Großmutter.

links: Schwester meines Vaters Mitte: Ururoma Kiymet Mete rechts: Uroma Sultan

Meine Urgroßmutter Sultan war eine tragische Figur. Sie starb sehr früh. Noch nie habe ich gehört, dass jemand aus dem Familienkreis über sie redete. Sie war nicht existent. Als ich meinen Opa fragte, sagte er nur frustriert: „Was haben meine Eltern schon für mich gemacht. Sie waren nie für mich da!“

Uroma Sultan

Meine Großmutter mütterlicherseits war umso präsenter in meinem Leben. Sie war gleichzeitig auch die Schwester von meinem Uropa Ali. Sie starb, wie ihre Mutter Kıymet auch mit einem Alter über 90. Sie wurde im Alter von 16 meinem Großvater Süleyman, ohne seine Zustimmung verheiratet.

Süleyman Cakir Großvater mütterlicherseits. Militärdienst bei der Marine.

Das Ehepaar Süleyman und Ibrişim Çakır

Mein Großvater Süleyman war ein gebildeter und intelligenter Mann.Er wollte nach dem Militärdienst eigentlich studieren. Seine Mutter, meine Urgroßmutter Hatuş (eigentlich Hatun) liess das allerdings nicht zu. Als er vom Militärdienst nach Hause kam, saß meine Oma schon zuhause und wurde meinem Opa als seine Ehefrau präsentiert.

 

Im Dorf war er als Lehrer und Bestatter (Hoca) bekannt. Er hatte den Ruf, erkennen zu können, wann jemand sterben würde. Daher hatte er auch den Spitznamen „Azrail“. Er hatte einen eigenen Lehrraum, wo er den Dorfbewohner lesen und schreiben beibrachte. Es verschlug ihn allerdings auch in den 50er Jahren nach Istanbul, wo er in der Baubranche tätig war. Er baute im boomenden Istanbul Mehrfamilienhäuser.

Der Gelehrte Süleyman – Stahlblaue Augen

Meine Mutter war die jüngste von drei Kindern. Insgesamt war meine Oma 9mal schwanger. Zwei Töchter starben Anfang der 60er Jahre im Dorf, mit wenigen Tagen Abstand im Alter von 6 und 7 Jahren. Ein anderes Mädchen verstarb nach wenigen Tagen. Der Rest waren, wie damals in den Dörfern traurige Normalität, Totgeburten.

Meine Mutter verliess mit 6 Jahren das Dorf und wuchs in Istanbul auf.

Istanbul in den frühen 70ern

Währenddessen war mein Opa Asker in Almanya unterwegs.

Großvater väterlicherseits Asker Mete (1934 geb.) in den 60er Jahren in Nordhessen

Später holte er meinen Vater als Teenager nach Deutschland. Er wurde auch wie Asker ein Bergmann. Nachdem die Verlobung mit meiner Mutter stattfand, musste mein Vater seinen Militärdienst in der Türkei ableisten.

Der Gastarbeiter Asker Mete 60er Jahre.

Vater und Sohn in der Unterkunft Mitte 70er

Mein Vater als Teenager im nordhessischen Dillich.

 

Er absolvierte seinen Militärdienst in Izmir und schrieb von dort Briefe an meine Mutter.

Briefe an die Verlobte

Militärdienst in Izmir

Militärdienst

Militärdienst

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und schliesslich war ich unterwegs…….

Eheglück und Supertapete